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Das Leben des Anderen

Gestern Abend bin ich zum ersten mal in dem Konzentrationslager Bergen Belsen gewesen, dort, wo irgendwo zwischen den Mauerresten und den Grasnarben in der Erde verstreut die sterblichen Reste von ihr liegen. Es war der letzte Sonntag im September 1994, der erste aufkommende Herbsttag nach einem verschwenderischen Sommer.

Über dreißig Jahre hatte ich gebraucht, um mir aus Konventionen und Disziplin eine schützende Haut zu formen und anzupassen, nicht gegen die alltäglichen Widrigkeiten des Lebens, nicht gegen unsensible Begegnungen, nicht gegen berufliche Fehlschläge, sondern für diesen Gang nach Bergen Belsen. Für diese eine Stunde, die den Schmerz der vielen Nächte, in den ich mit ihr in ihren Armen gestorben bin, in sich vereinte. Über dreißig Jahre hin hatte ich mir einen Schutzschild gegen das grausam helle Wissen gefügt, sie hätte mich in dem Gas mit ihrer letzten Kraft hoch an die Decke gehalten, damit ich ein paar Atemzüge länger gelebt hätte.

Das Wochenende zuvor war ich mit Andrea in Budapest gewesen. Stumm und sprachlos zu dem, was mich an Budapest band. Stunden sind wir an jenem Sonntag durch die Straßen gelaufen. Zwei Fremde. Sie erlebte Budapest als Besucher, sah die tiefen Wunden der kommunistischen Nachkriegsjahre und ich suchte verzweifelt nach Erinnerungsfetzen aus einer anderen Welt.

An diesem Wochenende wuchs in mir die letzte fehlende Kraft für die Entscheidung nach Bergen Belsen zu gehen.

Als ich von Soltau aus kommend am 24. September in dem unscheinbaren Flecken Bergen Belsen ankam, habe ich auf die einsetzende Dämmerung gewartet und bin erst dann über die lange, offene Zufahrtstrasse auf die Reste des ehemaligen Tors zum Konzentrationslager zugegangen.

Es war kühl geworden und der Weg führte in die Kälte, in den beißenden Frost des Januars 1945. Meine Beine und Füße wurden mit jedem schritt schwerer, so wie am Ende eines langen, zu langen Marsches.

 

Als ich vor den Resten des Lagergebäudes stand, brach plötzlich eine Lautwelt aus Klagen, Kommandoschreien, Zuggeräuschen, Hundegebell, Laufgeräuschen und Todesschreien auf mich ein, steigerte sich in ein schriller und schriller werdendes Crescendo. Wurde unerträglich.

 Alles, was ich mir in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten erkämpft hatte, zerbrach in ein Nichts. Ich starb Ihren Tod, fünfzig Jahre danach an den Resten der Baracke des Frauenlagers.

„Ist Ihnen nicht gut, kann ich Ihnen helfen?“ Die alte Frau holte mich wieder zurück, griff mir unter den rechten Arm und versuchte mit ihrer zerbrechlichen Kraft, mir wieder aufzuhelfen. Ich wusste nicht wer sie war. Ich schaute sie nicht an. Ich sprach zu mir selbst. „Sie ist hier vergast worden. Und dann verbrannt worden.“ Der helfende Arm der Frau erstarrte, verkrampfte sich. Sekunden, Minuten, ich weiß es nicht.

Dann sah ich sie. Ihre Augen groß und leer. Hager, ausgezehrt stand sie vor mir. Vergrämt. Ich wusste nicht, wer hier lebt und wer hier stirbt. Ihre Hände, die mich noch in der verkrampften Haltung gestützt hatten fielen kraftlos herunter. Dann schaute sie mich mit alten, wissenden Augen an, versuchte etwas zu sagen, aber die Laute formten sich zu keinem Wort. Schließlich stieß sie es unter Tränen hervor, „Ihr könnt uns doch niemals vergeben.“ Abrupt drehte sie sich weg und ging schleppend, um jeden Schritt kämpfend, die lange Zufahrtstrasse zurück.

Es ist mir bis heute nicht gelungen, die Schritte, die Gedanken, die Wortfetzendes inneren Monologs der zwei Stunden, die ich danach auf dem Gelände des Konzentrationslagers herumgeirrt bin, in mir wiederzufinden. Ich verlor mich in lichtloser Nacht und die Stunden blieben und bleiben ohne Worte. Ich weiß nur, dass diese Stunden anders verliefen, als ich sie mir in den langen Jahren der Vorbereitung darauf vorgestellt hatte. Sie mir erarbeitet hatte.

Es sollten Stunden der Nähe zu ihr werden, ich wollte ein Stück von ihr mitnehmen, ihr endlich ein Grab in mir geben. Ich habe es nicht geschafft. Ich habe bis in den frühen Morgen in meinem Auto gesessen, unfähig einen Gedanken zu fassen, unfähig in mein Leben zurückzukehren.

 

Als ich am Vormittag des folgenden Tages wieder nach Wiesbaden kam, war die Welt um mich herum einen andere geworden.

Und die Tage danach fügten Antworten und verknüpften sie zu neuem Denken. Und doch wusste ich, dass die alten Gespenster wieder kommen werden, wieder und wieder.

In den Jahren nach 1945 verfielen die Amerikaner auf die Idee, die Ausgabe der monatlichen Lebensmittelkarten von dem Besuch eines Kinos abhängig zu machen, in dem sie den Deutschen die Dokumente vorführten, die sie bei der Befreiung von Dachau und Buchenwald aufgenommen hatten ........